Unser Ich ist üblicherweise unser täglicher Begleiter. Es ist im Grunde die Summe unserer Erwartungen, Vorstellungen, Handlungen und Urteile. Es ist das Bild, welches wir von uns selbst und von der Welt haben. Es ist unser individuelles Etikettiergerät, mit dem wir alles und jedem unsere Aufkleber anhängen: Gut oder schlecht, reich oder arm, schön oder hässlich.
Es ist der Gedanke, dass wir ein eigenständiger Akteur in dieser Welt sind, welcher getrennt von der Außenwelt wahrnimmt und handelt. Damit sagen wir aber in gewisser Weise auch aus, dass wir begrenzt sind. Wir haben einen Anfang und ein Ende. Ist dem wirklich so? Wo fangen wir an und wo hören wir auf? Gibt es diese Grenzen in Wirklichkeit?
Wir schaffen unsere eigenen Grenzen
Ich habe einmal den Satz gehört: “Unser Ich ist Bewusstsein mit Grenzen.“. Wir begrenzen uns also durch unser Ich, durch unsere Vorstellung davon, jemand zu sein. Wir sind nicht, sondern wir glauben zu sein. Anfangs mag man es nur ungerne hören, aber unser Ich stellt eine äußerst tückische und hartnäckige Illusion dar, die wir erkennen und auflösen können. Doch um dies zu tun, möchte ich nun erstmal genauer auf das Ich und das (universelle) Selbst eingehen und es voneinander “abgrenzen”.
Denn die Erkenntnis des Selbst stellt quasi den heiligen Gral der Spiritualität dar und ebnet den Weg zur Ganzheit, zum Frieden mit uns und der Welt, zu Liebe und Glückseligkeit. Nun jedoch erstmal weiteres zum Ich, womit sich heutzutage der überwiegende Großteil der Menschheit noch identifiziert.
Das Ich, was wir glauben zu sein
Euch ist mittlerweile klar, dass das Ich sich aus vielen verschiedenen Dingen zusammensetzt, die ins Bewusstsein treten. Das Ich bewertet. Das Ich sagt dir, dass du nicht gut genug bist. Das Ich ist ein getrennter Teil vom Ganzen. Das Ich projiziert in alles und jeden etwas hinein. Das Ich formt die Brillengläser deiner Wahrnehmung und erzeugt dadurch Himmel und Hölle.
Doch dieses Ich kann nur aufrechterhalten werden, solange es einen Beobachter und etwas Beobachtbares gibt. Das Ich sieht zum Beispiel einen Vogel und projiziert dann die Art, die Farbe, die Größe usw. in ihn hinein, sieht aber nicht mehr den wirklichen Vogel, nur noch sein ganz eigenes Bild davon. Man kann dann nur noch das Abbild im eigenen Verstand sehen und nicht mehr den Vogel.
“Erkläre einem Kind das erste Mal, was ein Vogel ist, und es kann ihn nicht mehr sehen.”
-Unbekannt
Manchmal hören diese Abbilder auf zu existieren und wir sehen die Welt, wie sie wirklich ist. Kramt mal in eurem Gedächtnis herum und fragt euch, wo ihr euch wirklich am Leben gefühlt habt. Welche Momente in eurem Leben hatten die meiste Tiefe? Was könnte das hervorgerufen haben? Habt ihr nachts schon mal in den Sternenhimmel geschaut, dass es euch die Sprache verschlagen hat und in eurem Verstand für kurze Zeit Stille herrschte? Seid ihr schon mal auf einen Berg gewandert und musstet verdutzt staunen, als ihr die Spitze erreicht habt und in die Ferne gesehen habt?
In solchen Situationen kann das Ich für kurze Momente verschwinden und ihr seid dann nur noch pure Wahrnehmung. Dieser Bewusstseinszustand ist für viele aber so ungewohnt, dass er meist unbewusst erlebt wird und der Strom der Gedanken sofort weitergeht. Man realisiert dann gar nicht, dass er kurz zum Erliegen gekommen ist. Damit diese Momente bewusst erlebt werden können und der tiefe Frieden der Gegenwart jenseits von Vergangenheit, Zukunft und sonstiger Projektion erfahren werden kann, erfordert es einiges an Übung.
Das Jetzt erfahren
Um jenseits von Trennung und Separation das Jetzt zu erfahren, muss man mit oder ohne Werkzeuge üben. Unser Ich ist nämlich sehr widerspenstig und fürchtet nichts mehr als seinen eigenen Tod. Davon solltest du dich aber nicht abhalten lassen, denn auf der anderen Seite wartet eine unvorstellbare Tiefe des Lebens, welche in der Identifikation mit dem Ich nicht erfahren werden kann.
Schon das bewusste Erfahren von wenigen Sekunden kann einen großen Anreiz für dich darstellen, weiterzumachen und mehr Zeit deiner spirituellen Praxis zu widmen. Das Leben wird dich auf neue Art packen und du wirst absolut fasziniert sein, was jenseits deines Ichs verborgen liegt: Eine atemberaubende Fülle, in der nichts mehr fehlt und man sich ganz fühlt.
Einen Waldspaziergang machen
Eine Möglichkeit, dein Ich für einen Moment zurückzulassen ist es, einen Spaziergang in der Natur zu machen. Versuche dein Handy und Kopfhörer zuhause zu lassen und gehe am besten allein los. Falls du mit jemand anderem unterwegs bist, dann versucht beide still zu sein und die Aufmerksamkeit auf die Umgebung zu richten. Konzentrier dich ganz auf deine Sinne, schaue dir die Bäume ganz genau an, spüre den Wind auf deiner Haut. Sei so bewusst dabei, wie du kannst.
Wenn du wieder in einer Gedankenschleife landest, dann kehre mit deiner Aufmerksamkeit zu deiner Wahrnehmung zurück. Nimm die Gerüche wahr, lausche den Tieren. Sei ganz in deinem Körper, spüre deine Arme sich vor- und zurückbewegen und deine Füße den Boden berühren. Du könntest dies auch in der Stadt probieren, nur dort wird es dir anfangs wahrscheinlich deutlich schwerer fallen, da die Natur nicht bewertet und im Einklang miteinander lebt.
Der Klassiker: Meditation
Des Weiteren kann ich dir sehr ans Herz legen, dir eine meditative Praxis zu suchen. Heutzutage erkennen immer mehr die Bedeutung von Meditation und auch die Wissenschaft liefert mittlerweile eine ellenlange Liste schlagfertiger Argumente, die für die Wirkung von Meditation sprechen. Die Menschen geben so viel Geld und Zeit aus, um kurz zufrieden zu sein, doch haben keine 10 Minuten am Tag, um zu wirklicher Zufriedenheit zu gelangen.
Im Kern geht es beim Meditieren eigentlich nur darum, seine Aufmerksamkeit bewusst auf einen gewissen Punkt zu lenken oder eben auf so viele Punkte wie möglich gleichzeitig. Dadurch verblasst alles andere und man lernt entweder eine alles erhellende Lampe oder ein stark konzentrierter Laserstrahl zu werden. Ablenkungen treten dann immer seltener in deinen Verstand und das Erleben des Moments wird häufiger.
Für viele Beginner ist dieser Prozess jedoch äußerst frustrierend, da Fortschritt ein schleichender Prozess ist. Im Großen und Ganzen ist das Meditieren jedoch eine der effektivsten Übungen, um die Illusion des Ichs zu erkennen und sie Stück für Stück aufzulösen.
Das (universelle) Selbst
Sobald wir die Stille in uns durch Übung voranbringen, stärken wir unseren Kontakt zum Selbst. Wir kommen in Kontakt mit dem, was wir wirklich sind. Wir verbinden uns mit unserer Intuition und fangen an, wahre Bedeutung zu empfinden. Wir entwickeln mehr Vertrauen in uns selbst und in den Lauf der Dinge. Wir stellen uns weniger gegen den Strom des Lebens und fangen an, mit ihm zu schwimmen. Wir empfinden weniger Ärger, Wut, Hass und Stress.
Alles fängt an, leichter zu werden. Wir fangen an zu wissen, wer oder eher was wir wirklich sind. Die Grenzen zwischen dem Innen und Außen verschwimmen und wir müssen nichts mehr erzwingen.
Wir leben in der Leichtigkeit des Seins.
Nicht viele, sondern eins
In der Psychologie und im Volksmund wird das Selbst häufig auf einen einzelnen Menschen bezogen und in der Religion auch als Seele bezeichnet. In Wahrheit ist dieses Selbst aber universell und durchdringt alles und jeden in diesem Universum und vielleicht sogar darüber hinaus.
Es ist in seiner Reinform Liebe, Weisheit, Energie und Bewusstsein.
Es ist die Erkenntnis, dass es in Wahrheit nichts Getrenntes gibt und jedes einzelne Teilchen in Wechselwirkung mit allen anderen steht.
Es ist die Gesamtwahrnehmung der eigenen Persönlichkeit, wodurch sie sich auflöst und in alles übergeht.
Das Selbst kennt keinen Vergleich, keine Unterschiede. In ihm verschwinden Gut und Böse. In ihm ist nur noch. Das Selbst ist unsere wahre Natur, was die materielle Welt durchdringt und darüber hinaus geht. Es lässt sich nicht intellektuell verstehen, sondern nur sein.
Der Drahtseilakt vom Ich zum Selbst
Durch das Medium Zeit bewegt sich jeder von uns früher oder später vom Ich zum Selbst hin. Man kann es auch als den Prozess der Bewusstwerdung bezeichnen, in welchem wir unsere wahre Natur erkennen. Eigentlich sind wir dies schon die ganze Zeit, nur durch Identifikation mit einem Ich erleben wir es nicht mehr, wir sind zu sehr abgelenkt.
Zunächst einmal ist für die Suchenden wichtig, das Ich zu erforschen und es in jeglichen Situationen im Leben zu erkennen. Praktiziere Achtsamkeit oder lerne zu meditieren. Sieh´ in so vielen Situationen wie möglich ganz genau hin und beobachte die Vorgänge in deinem Körper und in der Welt. Frage dich, woher die Identifikationen mit all den Dingen in deinem Leben kommt. Reflexion ist dabei auch ein sehr wirksames Werkzeug.
Himmel und Wolken
Nach dem Hinduismus gibt es verschiedene Wege, das Selbst zu erkennen und sein Ich zu transzendieren. Lass dich von deinem Gefühl leiten und vertraue auf deine Intuition, sie kennt den Weg. Auf diese möglichen Wege möchte ich später noch weiter eingehen.
Als abschließenden Vergleich möchte ich dich nun bitten, dir einen Himmel mit Wolken vorzustellen. Die Wolken stellen dabei dein Ich dar, sie erscheinen fest und bewegen sich durch den Himmel, sie sind deine Anhaftungen an die Dinge. Der Himmel stellt wiederum das Selbst dar, welches Raum für die Wolken bietet und alles beinhaltet. Es ist immer gleich, unveränderlich und kennt keine Grenzen. Es ist die Leinwand und das Bild der Projektion das Ich. Erkenne das Selbst und du erkennst, dass dein gedachtes Ich gar nicht existiert.